3 Fragen an... Andrea Berger

06.03.2024

Die Zukunftsstiftung Bildung arbeitet mit einer Vielzahl von Expert*innen zusammen, um sich in ihren Programmen und Projekten fachlich stark aufstellen zu können. Kinder- und Jugendpsychotherapeutin Andrea Berger ist eine davon. Sie ist immer wieder als Referentin bei Veranstaltungen der Zukunftsstiftung Bildung im Einsatz, wie zum Beispiel bei Lehrkräfte-Fortbildungen zum Thema "Trauma" oder bei der Qualifizierung der Schulbegleitungen im Ukraine Peer Projekt "up!".
Im "3 Fragen an"-Gespräch berichtet sie uns davon, was in ihrem Berufsalltag Hoffnung macht und gibt konkrete Tipps für Krisensituationen im Schulbetrieb... 
 
Wie haben sich die Anfragen zur Traumatherapie in den vergangenen Jahren verändert?

Andrea Berger: Die konkreten Anfragen nach Traumatherapie haben zugenommen. Mein Eindruck ist, dass die Menschen grundsätzlich informierter sind und Anzeichen für Traumafolgestörungen vielleicht besser erkennen als früher. In der Öffentlichkeit werden Themen wie beispielsweise Missbrauch, auch innerhalb der Familie, oder Mobbing mehr diskutiert und offener als schwerwiegende Belastung anerkannt. Das ist gut, weil mehr Sensibilität für diese Themen auch zu früheren Behandlungen und entsprechend besseren Prognosen führen könnte. Zumindest theoretisch, praktisch besteht leider eine eklatante Unterversorgung, es gibt viel zu wenig Therapieplätze.


Was macht Ihnen in Ihrem Berufsalltag Sorge und was gibt Hoffnung?

Andrea Berger: Sorge machen mir die steigenden Zahlen behandlungsbedürftiger Kinder und Jugendlicher auf den Wartelisten. Die Wartezeit auf einen ambulanten Therapieplatz war schon vor Corona lang, aber jetzt ist sie unerträglich. Das muss ich in meiner Arbeit ausblenden. Es ist schwer Familien oder junge Menschen zu vertrösten, wenn sie in Not sind und dringend Psychotherapie bräuchten.
Ich betrachte auch sorgenvoll, dass Kinder und Jugendliche zumeist an zweiter Stelle gedacht werden. Viele Studien beziehen sich auf Erwachsene und die spezifischen Bedürfnisse von Kindern bleiben unberücksichtigt. Die Zulassung von EMDR (Anm. d. Red.: hochwirksame traumatherapeutische Behandlungsmethode) ist nur ein Beispiel hierfür: Die Studienlage für Erwachsene ließ die Zulassung und damit den Einsatz in der Praxis zu, für Kinder und Jugendliche warten wir weiter. Es mangelt auch an validen Testverfahren für jüngere Kinder.
Ich denke, das ist ein gesellschaftspolitisches Problem, das sich durch viele Bereiche, wie Bildung, Finanzen, Armut, zieht. Wir müssten besser auf unsere Kinder achten, sie sind doch die Zukunft.
Hoffnung gibt, dass wir immer passgenauere Behandlungsmöglichkeiten haben. Es gibt gut qualifizierte Therapeuten und Therapeutinnen und psychische Erkrankungen sind zunehmend weniger stigmatisierend. Das alles sind gute Entwicklungen.
Auch auf anderen Ebenen gibt es Hoffnung – zum Beispiel gibt es den allgemeinen Anspruch, dass Schule mehr ist als ein Ort zum Lernen. Dementsprechend gibt es zumindest punktuell gute Angebote für Kinder und Jugendliche. Dies ist zwar oft abhängig von persönlichem Engagement, ich hoffe auf flächendeckende gute Konzepte und Weiterentwicklung gemäß diesen Anspruches.


Wenn man als pädagogische Fachkraft in einer Situation bemerkt, dass für eine*n Schüler*in gerade alles zu viel wird, was ist ein zuverlässiges Mittel, um ihn*sie spontan wieder in Ruhe zu bringen? Haben Sie da einen ganz praktischen Tipp?

Andrea Berger: Wahrscheinlich ist der erste wichtige Schritt die Not der SchülerInnen zu erkennen und sie dann nicht alleine zu lassen. Das ist im pädagogischem Alltag wahrscheinlich nicht ganz einfach, aber für das Kind schonmal der 6-er im Lotto. Wenn es uns dann noch gelingt in Krisen selber in unserer Ruhe zu bleiben, haben wir viel geschafft. Hilfreich für die Pädagogen ist dabei eine ruhige Atmung beizubehalten. Hierzu gibt es viele schöne Atemübungen. Wir müssen gut darin sein unsere eigenen Emotionen zu regulieren, um dem Kind als Co-Regulatoren zur Verfügung zu stehen. Es ist wie im Flugzeug, erst bekommen die Erwachsenen die Atemmaske, dann die Kinder.
Befindet sich das Kind in großer Not oder Aufregung sollten wir uns räumlich und inhaltlich neben das Kind stellen und nicht konfrontativ von vorne arbeiten. Das führt dazu, dass das Kind nicht weiter in einen Verteidigungsmodus gerät. Dann sollten wir etwas Aktives machen, mit dem Ziel das Kind "ins Hier und Jetzt" zurückzuholen. Das kann etwas ganz Einfaches sein, wie einen Ball hin und her zu werfen oder einmal um den Schulhof zu laufen. Eine gute Methode, die diesen Zweck auch erfüllt, ist die 5-4-3-2-1-Übung: Das Kind kann zunächst 5 Sachen benennen, die es gerade sieht. Dann 5 Sachen, die es hört und 5 Sachen, die es körperlich spürt. In den Wiederholungen sind es jeweils nur noch vier, drei, zwei und in der letzten Runde 1 Sache. Wiederholungen sind dabei erlaubt. Übrigens: Wenn sich das Kind unsicher ist, wo es gerade in der Übung ist, ist das ein gutes Zeichen, dass die Übung wirkt.
Emotionsregulation ist eine Fähigkeit, die erworben wird. Es geht darum mit dem Kind herauszufinden, was ihm hilft, das ist nämlich individuell unterschiedlich.
Über die grundlegenden Konflikte sprechen wir dann erst an zweiter Stelle, wenn die Emotionen zumindest teilweise reguliert sind. Lösungsideen sollten wir mit dem Kind kooperativ suchen und nicht von oben hereingeben. Dafür sollten wir die Gefühle des Kindes erst einmal als wahrhaftig annehmen, bevor wir scheinbar "schlaue Lösungen" vorgeben. Pädagogen haben hier eine herausfordernde aber lohnende Aufgabe. Kinder, die sich regulieren lernen, sind friedvollere Erwachsene.

Andrea Berger ist Kinder- und Jugendpsychotherapeutin mit dem Schwerpunkt Traumatherapie in Herten.

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